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Die autobiografischen Aufzeichnungen Vosslers werden in der vorliegenden Ver"offentlichung vollst"andig in deutscher und russischer Sprache wiedergegeben und kommentiert. Der Textedition ist eine Einf"uhrung vorangestellt, welche die Erlebnisse und die Darstellung des w"urttembergischen Offiziers in den jeweiligen historischen Kontexten verankert. Eine Hauptschwierigkeit bei der Bearbeitung der Texte bestand in der Ermittlung der etwa 600, h"aufig sehr kleinen mittel- und osteurop"aischen Orte, die von Vossler genannt werden. Die Identifizierung gelang mit vereinten Kr"aften schliesslich in fast allen F"allen.
Die Arbeit an der Edition hat viel Freude bereitet. Dass dies so war, lag massgeblich an der hervorragenden Zusammenarbeit mit Herrn Dr. Sdvizkov, dem f"ur die Aufnahme des Textes in die Reihe „Archivalia Rossica“ sowie f"ur vielf"altige fachliche und sprachliche Unterst"utzung herzlich gedankt sei. Bei der Entstehung des Buches wirkten dar"uber hinaus weitere Personen und Institutionen mit, denen an dieser Stelle ebenfalls von Herzen gedankt sei: Yurij Karjakov machte mein Manuskript durch seine "Ubersetzung dem russischen Lesepublikum zug"anglich. Herbert Kneidl (Neutraubling) zeichnete die beiden im Buch enthaltenen Karten; mit technischem Rat zur Seite stand ihm Eugen Bastron (Deutsches Historisches Institut Moskau). Meine Recherchen zur Vita und zu den Aufzeichnungen Heinrich von Vosslers unterst"utzten Dr. Johannes Gr"utzmacher (Landeskirchliches Archiv Stuttgart), Dr. Kerstin Losert (W"urttembergische Landesbibliothek Stuttgart), Dr. Matthias Ohm (Landesmuseum W"urttemberg) und Gunda Woll (Museen der Stadt Tuttlingen). Ein grosses Dankesch"on gilt der W"urttembergischen Landesbibliothek Stuttgart, die die Illustration des Buches mit Aquarellen von Christoph Ludwig von Yelin erm"oglichte. Schliesslich sei Dr. Nicole Bickhoff, der Leiterin des Hauptstaatsarchivs Stuttgart, f"ur ihre Unterst"utzung des Editionsprojekts herzlich gedankt.
Stuttgart, im August 2016Dr. Wolfgang M"ahrleEinf"uhrung
1. Frieden und Krieg: Frankreich und Russland 1807 – 1814
Der gescheiterte Feldzug Napoleons gegen Russland im Jahr 1812 ist bis zum heutigen Tag fest im kollektiven Ged"achtnis Europas verankert. Die fast vollst"andige Vernichtung der franz"osischen Grande Arm'ee, die zu Kriegsbeginn etwa 600.000 Mann gez"ahlt hatte, gilt weithin als die gr"osste milit"arische Katastrophe der Neuzeit vor den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts. Das hohe "offentliche Interesse, das nach wie vor am franz"osisch-russischen Krieg von 1812 besteht, fand im Gedenkjahr 2012 in verschiedenen L"andern, insbesondere in Russland, in zahlreichen Ausstellungsaktivit"aten, Symposien, Vortragsveranstaltungen sowie in einer breiten Medienberichterstattung seinen Ausdruck. [76]
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Wichtige neue Publikationen: Bourdon 2012; Sokolov 2012; Rey 2012a; Rey 2012b; Klessmann 2012; Furrer 2012; 1812. Russland als europ"aisches Ereignis 2012; Winkler 2012; Mit Napoleon nach Russland 2012; Ananiewa/Gestwa 2013; Sdvizkov 2015. Nachdrucke: S'egur 2012; Steger 2012. In Vorbereitung: Nicole Bickhoff/ Wolfgang M"ahrle (Hgg.): Armee im Untergang. W"urttemberg und der Feldzug Napoleons gegen Russland 1812. Zur staatlichen Erinnerungspolitik in Russland vgl. M"uller 2012.
Vor allem zwei Faktoren d"urften f"ur die enorme Bedeutung des Russlandfeldzugs Napoleons in der europ"aischen Erinnerungskultur Ausschlag gebend sein. Zum einen die politischen Folgen des Krieges. Aus der R"uckschau betrachtet, markierte die Niederlage des franz"osischen Kaisers in Russland einen Wendepunkt in der europ"aischen Geschichte des fr"uhen 19. Jahrhunderts. Die Herrschaft Napoleons "uber weite Teile West-, Mittel- und S"udeuropas wurde durch die Ereignisse des Jahres 1812 grundlegend ersch"uttert. Gut ein Jahr nach dem Ende des russischen Feldzugs existierte das Premier Empire nicht mehr. Zum anderen war es der dramatische Verlauf des franz"osisch-russischen Krieges, der das Interesse an diesem milit"arischen Konflikt auch nach zwei Jahrhunderten noch weckt. Ereignisse wie die Feldschlacht bei Borodino, die Zehntausende das Leben kostete, vor allem aber der Brand Moskaus und der R"uckzug der Grande Arm'ee aus Russland bei Eis und Schnee verleihen dem Krieg von 1812 eine Bedeutung, die "uber das historische Geschehen hinausweist. Der Feldzug Napoleons erlangte in den vergangenen zwei Jahrhunderten eine symbolische Bedeutung f"ur die Grausamkeit des Krieges an sich.
Die Vorgeschichte des franz"osisch-russischen Konflikts von 1812 reicht bis in die 1790er-Jahre zur"uck. [77] Von 1795 bis 1807 hatten sich Zarin Katharina die Grosse sowie ihre Nachfolger, die Zaren Paul I. und Alexander I., regelm"assig und erfolglos an den B"undnissen gegen das revolution"are bzw. napoleonische Frankreich beteiligt. Nach der Niederlage der von Preussen und Russland getragenen Vierten Koalition vollzog die russische Politik im Sommer 1807 eine Wende. Napoleon und Alexander schlossen im Juli 1807 in Tilsit am Niemen (dt.: Memel) ein Friedensabkommen, das gleichzeitig einen Allianzvertrag darstellte. Alexander akzeptierte die von Napoleon zum Teil bereits realisierte, zum Teil noch beabsichtigte territoriale Neuordnung West-, Mittel- und S"udeuropas. Diese Reorganisation zielte auf eine franz"osische Hegemonie "uber Italien, "uber die Schweiz, "uber die deutschen Staaten des Rheinbundes, "uber die Niederlande sowie "uber Ostmitteleuropa (Preussen, Polen) ab. Alexander verpflichtete sich zudem zum Anschluss an das franz"osische Handelsembargo gegen Grossbritannien, die sogenannte Kontinentalsperre. Russland und Frankreich versprachen sich daneben wechselseitige Unterst"utzung im Kriegsfall und steckten Interessensph"aren in Nordeuropa und – in allerdings unzureichender Weise – auch auf dem Balkan ab. Beispielsweise gestattete Napoleon Russland die Eroberung Finnlands, die 1808/09 erfolgte.
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Zum franz"osisch-russischen Verh"altnis zu Beginn des 19. Jahrhunderts vgl. bes. Vandal 1891 – 1896; Sirotkin 2003; Adams 2006; Lieven 2009; Sokolov 2012. Zusammenfassend M"ahrle 2013b (mit weiterer Literatur).
Die in Tilsit geschlossene Allianz zwischen den Kaiserreichen Frankreich und Russland war von Beginn an fragil. Hierf"ur waren vor allem langfristige politische Interessengegens"atze zwischen den B"undnispartnern verantwortlich. Drei grundlegende Konfliktlinien lassen sich identifizieren. Erstens verk"orperten das aus dem revolution"aren Frankreich hervorgegangene Kaiserreich Napoleons und das dem Ancien R'egime verhaftete Russland vollkommen verschiedene Herrschafts- und Gesellschaftsmodelle. Zweitens bestanden zwischen Frankreich und Russland starke geopolitische Gegens"atze. Die beiden Imperien rivalisierten vor allem im "ostlichen Mitteleuropa (Polen, Preussen), aber auch auf dem Balkan und in Skandinavien. Drittens entsprach der erzwungene Anschluss an das Kontinentalsystem Napoleons nicht den wirtschaftlichen Interessen des Zarenreiches.
Ausser durch politische Gegens"atze war die in Tilsit geschlossene Allianz durch die konkreten Umst"ande ihrer Entstehung belastet. Der Kriegsverlierer Alexander musste im Sommer 1807 aus einer Position der Schw"ache heraus verhandeln. Es kam aufgrund dieser Ausgangskonstellation zu keinem auf beiden Seiten gleichermassen akzeptierten Ausgleich der Interessen. Der milit"arische Sieger Napoleon setzte vielmehr eine franz"osische Suprematie im B"undnis voraus. Er versuchte in den Jahren nach 1807 wiederholt, diese Vorrangstellung zur Geltung zu bringen und Russland zum Erf"ullungsgehilfen seiner Politik zu machen. Nicht nur politisch, sondern auch pers"onlich betrachtete der Empereur seinen B"undnispartner Alexander als nicht ebenb"urtig. Diese Einsch"atzung war deshalb "ausserst problematisch, weil sich die realen Machtverh"altnisse nach 1807 zugunsten Russlands verschoben.
Die zahlreichen Konfliktherde in der imperialen Allianz zwischen Frankreich und Russland wurden in den Jahren nach 1807 sukzessive virulent. Das B"undnis war einem Erosionsprozess ausgesetzt, der sich "uber Jahre hinzog und der schliesslich in offene Feindschaft einm"undete. Die franz"osisch-russischen Beziehungen zwischen 1807 und dem Ausbruch des Krieges im Fr"uhjahr 1812 lassen sich in drei Phasen untergliedern. In den Jahren 1807 bis 1809 kooperierten die beiden Imperien, wenngleich die Schwierigkeiten im B"undnis bereits un"ubersehbar waren. Napoleon ordnete auf der Grundlage der Tilsiter Vertr"age den mitteleurop"aischen Raum neu. Alexander f"uhrte siegreich Krieg gegen Schweden und gliederte anschliessend Finnland in sein Imperium ein. Ein ernster Konflikt entspann sich jedoch aufgrund der franz"osischen Kompensationsforderungen f"ur die von Alexander geplante Annexion der osmanischen Provinzen Moldau und Walachei. Bei einem glanzvollen Treffen zwischen Napoleon und Alexander in Erfurt im September und Oktober 1808 war der Vertrauensbruch im B"undnis bereits offenkundig. In den Jahren 1809/10 kam es zum Bruch der Allianz. Hierf"ur waren mehrere Entwicklungen verantwortlich, die sich wechselseitig bedingten. Russland unterst"utzte Frankreich im Krieg gegen "Osterreich nur symbolisch, konspirierte unter der Hand sogar mit dem Gegner Napoleons. Der franz"osische Kaiser reagierte, in dem er seinem B"undnispartner im Frieden von Sch"onbrunn nur einen kleinen Teil der von der Habsburgermonarchie abgetrennten galizischen Gebiete zusprach. Hingegen wurde das unter franz"osischem Einfluss stehende, von Russland stets kritisch be"augte Herzogtum Warschau grossz"ugig bedacht. Diese Ereignisse trugen wiederum dazu bei, dass Alexander das Ansinnen Napoleons zur"uckwies, die russische Grossf"urstin Anna zu ehelichen. Der franz"osische Kaiser heiratete daraufhin die "osterreichische Erzherzogin Marie-Louise. Obwohl die franz"osisch-russische Allianz durch die geschilderten Ereignisse Anfang 1810 weitgehend ausgeh"ohlt war, bestand das Tilsiter B"undnis formal bis 1812 weiter. In den letzten beiden Jahren vor Kriegsbeginn war das Verh"altnis zwischen Frankreich und Russland durch zahlreiche konkrete politische Probleme massiv belastet. Dissens bestand vor allem "uber die Balkanpolitik Napoleons nach dem Frieden von Sch"onbrunn, die Wahl des franz"osischen Marschalls Jean-Baptiste Bernadotte zum Kronprinzen von Schweden (Mai 1810), die zuk"unftige Rolle des Herzogtums Warschau sowie die faktische Wiederaufnahme des Handels mit Grossbritannien durch Russland (31. Dezember 1810). F"ur erhebliche Verstimmung sorgte zudem die Annexion des Herzogtums Oldenburg durch Frankreich Anfang 1811. Durch die Ausweitung des Empire nach Norddeutschland verlor der Ehemann Grossf"urstin Katharinas, Herzog Peter von Oldenburg, seine Besitzungen; er emigrierte nach Russland.