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Der erinnernde Benjamin besieht die Welt, wie es bei Szondi in der schönen Formulierung heißt, “mit dem zweifach fremden Blick: mit dem Blick des Kindes, das wir nicht mehr sind, mit dem Blick des Kindes, dem die Stadt noch nicht vertraut war” [Szondi 1978b, 296]. Um diese Formulierung positiv zu wenden: Benjamin erinnert nicht einfach die Stadt seiner Kindheit, sondern die Stadt als eine ganze Welt, so wie sie sich in ihren Wörtern, einzelnen Dingen, Wohnungen und Straßen, mit ihren gelegentlichen Sommerreisen und alljährlichen Sommerwohnungen dem Kind entdeckt.
Gegenstand der Schilderung ist weniger das Was der Entdeckung als vielmehr der Vorgang des Entdeckens selbst. Zu dem zentralen Ereignis der Berliner Kindheit wird dementsprechend, dass das Kind alle erdenklichen Türen öffnet, jederlei Art von Schwellen überschreitet, die verschiedensten Räume betritt – oder doch zumindest in deren Inneres hineinspäht, hineinlauscht oder hineintastet. Stets steht hinter diesen einzelnen realen Gesten eine allgemeine psychologische Geste, nämlich die Erkenntnis als Entdeckung, Enthüllung, Entschleierung, Enträtselung, Entzauberung etc. Dabei ist es ganz gleich,
– ob das Kind den Riegel der Ofentüre beiseite schiebt [Wintermorgen, Berliner Kindheit , GS, VII.1, 397—398]; [181]
– ob es den Fingerhut “gegens Licht [hielt]”, so dass dieser “am Ende seiner finstern Höhlung [glühte], in der unser Zeigefinger so gut Bescheid wußte” [Der Nähkasten, Berliner Kindheit , GS , VII.1, 425];
– ob es in die aus Kissen und Bettdecken gebildete Höhle des Bettes hineinkriecht [Das Fieber, Berliner Kindheit , GS , VII.1, 402—406];
– ob sich die durch zwei Schwellen “doppelt verwahrte Erkerwohnung” an der Steglitzer Straße, Ecke Genthiner Straße, die “Kostbares in sich zu bergen hatte”, vor dem Kind “auftut” [Steglitzer Ecke Genthiner, Berliner Kindheit , GS , VII.1, 400];
– ob in der großmütterlichen Wohnung im Blumeshof 12 eine Reihe von Räumen “sich eröffneten”, nämlich ein Spindenzimmer, ein anderes Hinterzimmer, ein drittes Hinterzimmer und als “wichtigster von diesen abgelegenen Räumen” die Loggia, die ihrerseits “den Blick auf fremde Höfe mit Portiers, Kindern und Leierkastenmännern freigab” [Blumeshof 12, Berliner Kindheit , GS , VII.1, 412];
– ob das Kind auf der Suche nach Ostereiern mit einem Anspruch von Wissenschaftlichkeit “die düstere Elternwohnung als ihr Ingenieur [entzauberte]” [Verstecke, Berliner Kindheit , GS, VII.1, 418];
– ob es sich – bereits jenseits der Geschlossenheit der bürgerlichen Interieurs – im “Innern” des Gartenpavillons in die Farben vertieft, ähnlich wie beim Tuschen, “wo die Dinge mir ihren Schoß auftaten, sobald ich sie in einer feuchten Wolke überkam” [Die Farben, Berliner Kindheit , GS, VII.1, 424];
– ob aus der weihnachtlich geschmückten Stadt, “aus ihrem Innern”, mit dem Weihnachtsmarkt zugleich “noch etwas anderes hervor[quoll]: die Armut” [Ein Weihnachtsengel, Berliner Kindheit, GS , VII.1, 420];
– ob sich am Winterabend “ein dunkles, unbekanntes Berlin” vor dem Kind “ausbreitete” [Winterabend, Berliner Kindheit , GS, VII.1, 414];
– ob das Kind sich im Sommer “die Gegend, die im Schatten der königlichen Bauten lag, zu eigen machte” und mit der Pfauenfeder etwas sucht, “was mir die Insel ganz zu eigen gegeben, sie ausschließlich mir eröffnet hätte” [Pfaueninsel und Glienecke, Berliner Kindheit , GS, VII.1, 408, 409];
– oder ob es sich in Glienecke “neue Territorien erobert”, indem es die “Scheidung” zwischen unkundigen und kundigen Radfahrern überwindet und in den Rang derer “rückt”, “die die Halle verlassen und im Garten radeln durften” [Pfaueninsel und Glienecke, Berliner Kindheit , GS, VII.1, 409];
– ob es “ins Innere” des Kaiserpanoramas tritt und hier durch “je ein Fensterpaar in [die] schwach getönte Ferne” der Reisebilder sieht [Kaiserpanorama, Berliner Kindheit , GS, VII.1, 389, 388];
– ob es beim Lesen in den Knabenbüchern “im Gestöber der Lettern den Geschichten nachzugehen [beginnt], die sich am Fenster mir [im Blick auf das Schneegestöber] entzogen hatten” [Knabenbücher, Berliner Kindheit , GS, VII.1, 396];
– ob es schließlich “im Hintergrund” des Ladens für Schreibbedarf in der “Krummen Straße” die “anstößigen Schriften” ausfindig macht [Krumme Straße, Berliner Kindheit , GS, VII.1, 415].