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Der Text führt vor, dass sich das Geheimnis des Strumpfes nicht mit einem Mal, sondern im Zuge einer serialen Bewegung entdeckt, in einem sich immer weiter verschachtelnden Raum, dessen Inneres sich in das Außen eines weiteren Inneren verwandelt. Das Eindringen in das Innere der Dinge und dessen Bloßlegung, d. h. dessen Entdeckung, verfügen als äußerlich verschiedene Handlungen über eine gemeinsame Sinnpotenz: die Erkenntnis. Das Kind findet im Strumpf, den es auswickelt, diesen selbst und die Lehre der Auswechselbarkeit von Außen und Innen. “Die Tasche”, die “Das Mitgebrachte” enthalten hatte, entpuppt sich als ihr eigener Inhalt. Und diese kindliche Lehre wendet sich in die spätere poetologische Erkenntnis, dass die Form des Kunstwerkes sein Inhalt ist , und dass daher dessen Analyse in statischen Oppositionspaaren problematisch erscheint:
Nicht oft genug konnte ich die Probe auf diesen Vorgang machen. Er lehrte mich, daß Form und Inhalt, Hülle und Verhülltes dasselbe sind. Er leitete mich an, die Wahrheit so behutsam aus der Dichtung hervorzuziehen wie die Kinderhand den Strumpf aus “Der Tasche” holte. [Der Strumpf, Berliner Kindheit , GS , VII.1, 417]
Um nun die Probe aufs Exempel zu machen und Benjamins Lehre der Auswechselbarkeit von Form und Inhalt auf seinen eigenen Text der Berliner Kindheit anzuwenden: Benjamin, der sich seine Berliner Kindheit vergegenwärtigt, trägt (so wie “Die Tasche”, wie die Form) seine Vergangenheit (als “Das Mitgebrachte”, als Inhalt) in sich. Er entdeckt dieses “Mitgebrachte”, diesen Inhalt (seine Vergangenheit) in dem Sinne, dass er, als er noch Kind war, bereits die Gegenwart des Erwachsenen (als “Das Mitgebrachte”, als Inhalt) in sich trug (so wie “Die Tasche”, wie die Form). Anders gesagt: Der Benjaminsche gegenwärtige “Inhalt” erweist sich als die “Form”, die seine vergangene Kindheitserfahrung angenommen hat. Die persönliche Vergangenheit wird so zu einer Fortsetzung der Gegenwart. Das, was Benjamin auf seiner Zeitreise (von der Gegenwart) in die Vergangenheit entdeckt, sind jene Bilder, die potentiell seine späteren Gedanken in sich bargen. Auf seiner Reise (aus der Vergangenheit) in die Gegenwart entdeckt er jene Gedanken, die von Anfang an (wenn auch unsichtbar) in den frühen Bildern geborgen waren. Benjamin sucht durch die Erinnerung nicht seine Berliner Kindheit selbst dingfest zu machen, sondern die Urbilder seiner Gedanken, so wie er diese in den Bildern der Kinderzeit entdeckt. Der erinnernde Benjamin ist jenen “Bildern und Allegorien” auf der Spur, die schon in der Luft seiner Kindheit lagen und “die über meinem Denken herrschen wie die Karyatiden auf der Loggienhöhe über die Höfe des Berliner Westens” [Loggien, Berliner Kindheit , GS , VII.1, 386].
Es dürfte deutlich geworden sein, dass Benjamin mit der Berliner Kindheit ein Buch schreibt, wie man es sich verschiedener von traditionellen Memoiren kaum denken könnte – dort die Chronologie der Ereignisse, hier die Entfaltung des nichtlinearen Denkens. Benjamins Interesse gilt in der Berliner Kindheit vor allem der Welt im Moment ihrer Entdeckung, es gilt jenen Bildern, die auftauchten, als die Welt dem Kind noch unbekannt war und es die ersten Schritte unternahm, um sie zu entdecken. Ein Rückblick auf Benjamins Moskau-Texte legt nahe, dass diese ungewöhnliche und alles andere als triviale Erzählstrategie der Berliner Kindheit auf Benjamins Moskau-Erfahrung zurückgeht, als er, dem die unbekannte Moskauer Welt gegenüberstand, sich in die Lage eines Kindes versetzt fand. [186]
Bei seiner Ankunft im “asiatischen” [187] Moskau 1926 trifft Benjamin auf eine Stadt, die ihm gänzlich unvertraut ist, und in die er sich allererst einleben muss. Im Bewusstsein seiner unvermeidlichen “europäischen” Befangenheit steuert Benjamin einer vorschnellen Konzeptionalisierung seiner Moskau-Erfahrung entgegen. Ihm geht es nicht um ein (“überlegenes”) konzeptionelles Verständnis, sondern um ein konkret-gegenständliches Verständnis (“dicht unter die Menschen und Dinge gemischt”) der fremden Stadt. Er braucht die Erfahrung der Nähe, die Erfahrung des körperlich-sinnlichen Kontaktes, um zu einem synästhetischen Bild von Moskau zu kommen.
Ein zentrales Verfahren Benjamins ist es dabei, sich “ins sonderbare Tempo dieser Stadt und in den Rhythmus ihrer bäurischen Bevölkerung [zu] schicken”. Diese synchrone Bewegung in und mit der Menge erfährt Benjamin nicht nur zu Fuß, wenn er sich ganz dem “Drängen und Sichwinden” der Passanten, deren “Serpentinengang” [“Moskau”, 1., GS, IV.1, 317, vgl. Moskauer Tagebuch , GS , VI, 313] überlässt, sondern auch in der Trambahn:
Beförderung in der Trambahn ist in Moskau vor allem eine taktische Erfahrung. Hier lernt der Neuling sich vielleicht am ersten ins sonderbare Tempo dieser Stadt und in den Rhythmus ihrer bäurischen Bevölkerung schicken. Auch wie einander technischer Betrieb und primitive Existenzform ganz und gar durchdringen, dies weltgeschichtliche Experiment stellt eine Trambahnfahrt im kleinen an. Die Schaffnerinnen stehen angepelzt auf ihrem Platz in der Elektrischen wie Samojedenfrauen auf dem Schlitten. Ein zähes Stoßen, Drängen, Gegenstoßen bei dem Besteigen eines meistenteils schon bis zum Bersten überfüllten Wagens geht lautlos und in aller Herzlichkeit vonstatten. (Nie habe ich bei solcher Gelegenheit ein böses Wort vernommen.) Ist man im Innern, so beginnt die Wanderung erst. Durch die vereisten Scheiben kann man nie erkennen, an welcher Stelle sich der Wagen gerade befindet. Erfährt man es, so hilft es noch nicht viel. Der Weg zum Ausgang ist durch einen Menschenkeil verrammelt. Da man nun hinten einzusteigen hat, aber vorn den Wagen verläßt, so hat man sich durch diese Masse durchzufinden. Meist spielt sich die Beförderung freilich schubweise ab; an wichtigen Stationen wird der Wagen beinahe ganz geräumt. Also ist selbst der Moskauer Verkehr zum guten Teil ein Massenphänomen. [“Moskau”, 9, GS, IV.1, 330—331, vgl. Moskauer Tagebuch , GS , VI, 389, 313]
Dank der Synchronisierung seiner Bewegung mit derjenigen der Stadt gewinnt Benjamin nicht nur eine optische, sondern vor allem eine rhythmische, “taktische”, ja taktile Erfahrung. [188] Interessanter aber (im Blick auf die Erzählstrategie der Berliner Kindheit ) ist, dass sich Benjamin auf dem einmal eingeschlagenen Weg in der Lage eines Kindes wiederfindet, sucht er sich doch in das unbekannte Moskauer Alltagsleben einzureihen und sich dessen Praxis anzueignen. Und tatsächlich macht die fremde Stadt den Reisenden in gewisser Weise zu einem Kind und “traut” ihn den Dingen erst allmählich “an”. [189] Liest man Benjamins Moskau-Texte unter diesem Blickwinkel, dann eröffnet sich eine ganze Serie von Kindheits-Assoziationen. Dass es in der ersten Woche die “Technik, sich auf Glatteis zu bewegen”, neu anzueignen gilt [“Moskau”, 1, GS, IV.1, 317, vgl. Moskauer Tagebuch , GS , VI, 298], davon ist im Essay noch ein zweites Mal die Rede: Benjamin findet sich auf dem Moskauer Glatteis buchstäblich in das “Kinderstadium” versetzt [“Moskau”, 2, GS , IV.1, 318]. Und wenn Benjamin die Moskauer Schlittenfahrten schildert, werden auch hier Kindheits-Erinnerungen explizit:
Dicht am Bürgersteig lenkt der Iswoschtschik entlang. Der Fahrgast thront nicht, sieht nicht höher hinaus als alle anderen und streift mit seinem Ärmel die Passanten. Auch dies ist für den Tastsinn eine unvergleichliche Erfahrung. Wo Europäer in geschwinder Fahrt Überlegenheit, Herrschaft über die Menge genießen, ist der Moskowiter im kleinen Schlitten dicht unter Menschen und Dinge gemischt. […] Kein Blick von oben herab: ein zärtliches, geschwindes Streifen an Steinen, Menschen und Pferden entlang. Man fühlt sich wie ein Kind, das auf dem Stühlchen durch die Wohnung rutscht. [“Moskau”, 9, GS , IV.1, 331]