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На меже меж Голосом и Эхом. Сборник статей в честь Татьяны Владимировны Цивьян
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Зайонц Л. О.

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Nicht von ungefähr erinnern ihn die auf der Straße Handel treibenden Frauen an Großmütter, die sich für ihre Enkel ein Mitbringsel ausgedacht haben:

Alle fünfzig Schritt stehen Weiber mit Zigaretten, Weiber mit Obst, Weiber mit Zuckerwerk. Sie haben ihren Waschkorb mit der Ware neben sich, manchmal auch einen kleinen Schlitten. Ein buntes Tuch aus Wolle schützt Äpfel oder Apfelsinen vor der Kälte, zwei Musterexemplare liegen obenauf. Daneben Zuckerfiguren, Nüsse, Bonbons. Man denkt, eine Großmutter hat vor dem Weggehen im Hause Umschau gehalten nach allem, womit sie ihre Enkel überraschen könnte. Nun bleibt sie unterwegs, um sich ein bißchen auszuruhen, an der Straße stehen. [“Moskau”, 2, GS , IV.1, 317—318, vgl. Moskauer Tagebuch , GS , VI, 299, 301]

Während das Thema Kindheit in der letzten Passage nur anklingt, präsentiert es sich in den ersten beiden Passagen explizit. Benjamin empfindet sich buchstäblich in das “Kinderstadium” versetzt. Und vielleicht ist es auch das vorweihnachtliche Moskau, mit den auf der Straße feilgebotenen Tannen, den Kerzen, dem Baumschmuck, welches Benjamin in seine kindliche Vergangenheit entrückt haben mag. [190] Man darf mit gutem Grunde annehmen, dass diese durch die MoskauErfahrung unwillkürlich aufgerufenen Kindheitsassoziationen potentiell jene Erzählstrategie bergen, welche Benjamin dann in seinem Erinnerungsbuch realisieren wird. Von der Verknüpfung der Themen Moskau und Berlin sprechen bereits die letzten Passagen des Moskauer Tagebuches , die Benjamin unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Moskau nachtrug. Laut Benjamin erlaubt die Moskau-Erfahrung einen neuen und überraschenden Blick auf Berlin:

Es ist mit dem Bilde der Stadt [Berlin] und der Menschen dasselbe wie mit dem Bilde der geistigen Zustände: die neue Optik, die man auf sie gewinnt, ist der unzweifelhafteste Ertrag eines russischen Aufenthalts. Mag man auch Rußland noch so wenig kennen lernen – was man lernt, ist Europa mit dem bewußten Wissen von dem, was sich in Rußland abspielt, zu beobachten und zu beurteilen. Das fällt dem einsichtsvollen Europäer als erstes in Rußland zu. [ Moskauer Tagebuch , GS , VI, 399] [191]

Vor dem Hintergrund der Moskauer Eindrücke und erst im Kontrast zu der fremden Stadt gewinnt die eigene Stadt, gewinnt Berlin neue Züge. Dieser Blick auf die eigene Stadt mit gleichsam fremden Augen ist für Benjamin selbst “der unzweifelhafteste Ertrag” seines Moskau-Aufenthaltes.

Zu einem weiteren Ertrag des Moskau-Aufenthaltes muss man ohne Zweifel auch die Berliner Kindheit zählen, mit der Benjamin die Erfahrung seiner Pseudo-Kindheit in Moskau aktualisiert. Die Reise in die Fremde, in der er, der Erwachsene, sich in die Lage eines Kindes versetzt fand, war Benjamin unwillkürlich zu einer Reise in die Zeit geraten. Im Laufe der Reflexion dieser positiv verbuchten Erfahrung wird Benjamin das künstlerische Verfahren jenes zweifach verfremdenden Blicks, von dem oben die Rede war, für sich neu entdecken. Und er wird dieses Verfahren für seine Erzählstrategie der Berliner Kindheit regelrecht verpflichten.

Hier, in seinem Erinnerungsbuch, verlegt Benjamin den Ort der Handlung in das Berlin seiner Kindheit. Aber um in ein solches Berlin zu geraten, bedarf es jener neuen Optik, die es erlaubt, das Gewohnte neu zu sehen oder, wie Benjamin selbst formulieren würde, “das Neue wiederzuerkennen”. Am Bestimmungsort seiner Reise in die Zeit findet er sich in weiter Ferne von der gegenwärtigen Stadt und zugleich in der Nähe jener Bilder, die sich im Laufe der kindlichen Entdeckung der Welt herausbildeten.

Primärliteratur

Benjamin Walter 1963 – Städtebilder. Nachwort von Peter Szondi. (edition suhrkamp; Bd. 17). Frankfurt am Main, 1963.

Benjamin Walter 1972—1999 – Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem. 7 Bände und Supplement. Frankfurt am Main, 1972—1999.

Benjamin Walter 1980 – Moskauer Tagebuch. Aus der Handschrift herausgegeben von Gary Smith. Mit einem Vorwort von Gershom Scholem. (edition suhrkam; Bd. 1020, Neue Folge; Bd. 20). Frankfurt am Main, 1980. [Russisch: БеньямиВ. 1997 – Московский дневник. М., 1997.]

Benjamin Walter 2000 – Berliner Kindheit um neunzehnhundert: Gießener Fassung. Hrsg. und mit einem Nachwort von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main, 2000.

Sekundärliteratur

Braese Stephan 1995 – Deutsche Blicke auf Sowjet-Rußland: die MoskauBerichte Arthur Holitschers und Walter Benjamins // Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, 1995, № 24: 117—147.

Brüggemann Heinz 1989 – Fenster mit brennender Lampe in schadhafter Mauer: Räume und Augenblicke in Walter Benjamins “Berliner Kindheit um 1900” // Brüggemann, Heinz: Das andere Fenster: Einblicke in Häuser und Menschen. Zur Literaturgeschichte einer ur-banen Wahrnehmungsform. Frankfurt am Main, 1989: 233—266.

Schlögel Karl 1998 – Moskau lesen. Die Stadt als Buch. Berlin.

Schneider Manfred 1986 – Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert. München.

Schöttker Detlev 2000 – Erinnern // Opitz, Michael / Wizisla, Erdmut (Hrsg.): Benjamins Begriffe. Band 1. Frankfurt am Main, 2000: 260—298.

Schütz Erhard 1993 – Die Heimat des Zögernden. Zu Walter Benjamins Berlin-Prosa // Haarmann, Hermann (Hrsg.): Berliner Profile. Berlin, 1993: 27—49.

Schütz Erhard 2004 – Benjamins Berlin. Wiedergewinnung des Entfernten // Schöttker, Detlev (Hrsg.): Schrift, Bilder, Denken. Walter Benjamin und die Künste. [Ausstellung Schrift, Bilder, Denken – Walter Benjamin und die Kunst der Gegenwart, 29. Oktober 2004–31. Januar 2005, Haus am Waldsee, Berlin]. Fankfurt am Main, 2004: 32—47.

Szondi Peter 1978a – Hoffnung im Vergangenen. Über Walter Benjamin // Szondi, Peter: Schriften. II. Frankfurt am Main, 1978: 275—294.

Szondi Peter 1987b – Benjamins Städtebilder // Szondi, Peter: Schriften. II. Frankfurt am Main, 1978: 295—309.

Walter Benjamin 1892—1940 1990 – Walter Benjamin 1892—1940. Eine Ausstellung des Theodor W. Adorno Archivs Frankfurt am Main in Verbindung mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar. Bearbeitet von Rolf Tiedemann, Christoph Gödde und Henri Lonitz. Marbacher Magazin, 1990, № 55. Marbach am Neckar.

Witte Bernd (o. J.) – Bilder der Erinnerung. Walter Benjamins Berliner Kindheit. http://www.walter-benjamin.org/Texte/Witte/1–14.

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